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Ulrich Beck

 Mißverstehen als Fortschritt
 Europäische Intellektuelle im Zeitalter der Globalisierung.

 

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Ulrich Beck
Im November 1997 wurde Pierre Bourdieu mit dem Ernst-Bloch-Preis 1997 ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Ulrich Beck. [Traduction française]

 

 

   

Sehr verehrter Pierre Bourdieu!

Meine verehrten Damen und Herren!

I. Das Werk und Leben Ernst Blochs lehrt unsereins, daß der Weg zu einer Gesellschaft der Individuen - zu einem Europa der Individuen - nur in Brüchen und Widersprüchen, auch zu sich selbst, möglich wird: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst", lautet der einleitende Satz Ernst Blochs damals wie heute. Wir ehren in Pierre Bourdieu nicht nur einen der berühmtesten Soziologen der Welt, sondern eine Person, deren Biographie und Werk gleichermaßen wider den Strich der gesellschaftlichen Erwartungen gerichtet ist. Darf ich einer Wissenschaft - unserer viel gescholtenen Soziologie - dazu gratulieren, daß sie diesen entschiedenen Kritiker, ja Dissidenten der Soziologie zu ihrer zentralen Figur gemacht hat? Darf ich Pierre Bourdieu dazu gratulieren, daß sein Leben und Wirken eine lebendige Widerlegung der Grundauffassung der Soziologie ist, nach der das Individuum durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt wird? Er hat nie das getan, was ihm durch Herkunft und Ausbildung vorgezeichnet war, sondern immer das, was ihn in offenen Widerspruch zu der verinnerlichten Macht der eigenen Gruppe und der Institutionen in uns setzte, die er selbst als "Habitus" und "soziales Feld" zum Schlüssel seiner Analysen machte.

Christa Wolf hat in ihrem Roman Nachdenken über Christa T. diesen "langen, nicht enden wollenden Weg zu sich selbst" benannt als die "Schwierigkeit, 'ich' zu sagen". Mit dieser Schwierigkeit, 'ich' zu sagen hadert und von ihr handelt Pierre Bourdieus Leben und Werk. Sein Name steht dafür, daß dies nebulöse, der Soziologie verdächtige europäische Zauberwort "ich" nur im Ausbruch aus dem ehernen Gehäuse professioneller Hörigkeit und nur im öffentlichen Austausch Konturen und Farbe gewinnen kann. Bourdieu, der Kritiker der Individualisierung, ist ihre Verkörperung.

Doch Bourdieu einen Intellektuellen-Kritiker zu nennen, ist eine glatte Verharmlosung. Verteufelt gut sein Buch Homo academicus. (Man fragt sich nur, woher er das alles weiß?) Er entzaubert die intellektuellen Entzauberer, also auch sich selbst. Aber er weiß, daß dies nur als Zauber, ja Verzauberung möglich wird. "So lag denn die Versuchung nahe", schreibt Bourdieu im Homo academicus, "sich hier den Titel zu eigen zu machen, den Li Zhi, ein von Zwängen seines Standes sich befreiender Mandarin, einem der selbstzerstörerischen, die Regeln des Mandarinentums enthüllenden Werke gegeben hat: Das Buch, das verbrannt gehört." Bourdieu ist Li Zhi, dieser von den Zwängen seines Standes sich befreiende Mandarin, seine Bücher tragen alle, dem inneren Bild ihres Autors nach, denselben Titel "Das Buch, das verbrannt gehört". Dabei ist Bourdieu alles andere als ein Befreiungsheld. Er will eine "realistische, also pessimistische Soziologie". "Ich ziehe es vor", sagt Bourdieu, "enttäuschend zu sein, als irreführend und betrügerisch."

Nun muß ich aber doch auf mich und meine Rolle hier zu sprechen kommen. Ich fühle mich hochgeehrt, aber doch auch in die Falle gelockt, eine Person zu ehren, die mir in dem Spiel der Laudatio, das wir hier spielen, zugleich das Skript vorschreibt und aus der Hand schlägt. Denn selbstverständlich hat der Autor des Homo academicus detailgenau auch den akademischen Ritus vorverhandelt, durchleuchtet, ironisiert, der heute hier inszeniert wird: "Die kulturellen Produkte sind mit Etiketts (zum Beispiel die dem 'Preisträger' zugeschriebenen Berufsprädikate 'Philosoph und Soziologe')... (zu) versehen, das heißt Gütesiegeln, welche die (öffentliche) Wertung prädeterminieren und leiten." Und dann plaudert Bourdieu - man muß wohl sagen - aus dem Nähkästchen der öffentlichen Intellektuellen, wie diese im dauernden Schöhnheitswettbewerb "Wer ist der Erhörteste im ganzen Land?" einander (lobend) verfluchen. Nicht wenig erschrocken gemacht hat mich sein Passus über die Gewalt der Intellektuellen: "Die extreme Unsicherheit, die aus der Ungewißheit über das Erreichte erwächst, verleiht hier dem symbolischen Kampf aller gegen alle den einzigartigen Gewaltcharakter: all den unzähligen und fast unmerklichen Akten der Verurteilung - der an Verfluchung grenzenden üblen Nachrede, der Verleumdung, den 'tödlichen' Worten und verheerenden Gerüchten..." Auch Ehrungen, insbesondere gutgemachte, könnten dem Geehrten und Verehrten als "verheerende Gerüchte" erscheinen. Ich hoffe nicht!

Lieber Pierre Bourdieu, ich kann nun weder sagen, daß Sie sind, was Sie sind: "Philosoph und Soziologe", noch kann ich es nicht tun. In meiner Not fällt mir ein Satz Bertolt Brechts ein, den ich in Großbuchstaben auf der Innenseite der Tür zu meinem Arbeitszimmer angeheftet habe: "Der größte Teil der kulturellen Produktion der letzten Jahre wäre durch einfache und zweckmäßige Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen" - nutzlos, was mich selbst betrifft. Im Sinne Bourdieus könnte der Satz lauten: "Der größte Teil der kulturellen Produktion der letzten Jahrzehnte wäre durch einfache und zweckmäßige Beteiligung der Intellektuellen am Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit mit Leichtigkeit zu verhindern gewesen." So wollen wir es miteinander versuchen.

 

II. Drei Annäherungen an Pierre Bourdieu (ich bitte um Nachsicht, daß es nur drei sind). Da ist zunächst Bourdieu eins, der ein Camus'sches Leben, eine Art Revolte gegen die ihn dominierenden Erwartungen führt. Exemplarisch dafür ist: Bourdieu kommt als wehrpflichtiger Soldat nach Algerien. Nach zwei harten Jahren, in denen von wissenschaftlichen Arbeiten keine Rede sein kann, wechselt er sozusagen die Front und schreibt eine Soziologie Algeriens, um den Algeriern ihre tragische Situation begreifbar zu machen. Nicht weniger bezeichnend: Der im französischen Elitesystem ausgebildete und anerkannte Philosoph begann auf diese Weise seine Arbeit als Ethnograph und Ethnologe - wie er selbst sagt - als Autodidakt. Überall dieses Muster eines die vorgegebenen Grenzen überschreitenden Lebens. Daraus erwächst dann jene "Mischung aus Ehrgeiz und Bescheidenheit", die bis heute alle seine Forschungen und Forschungsgruppen kennzeichnet.

Bourdieu zwei ist ein einschüchternd brillanter theoretischer und empirischer Soziologe, aber er ist mehr als das. Es ist wieder die kritische Haltung gegenüber dem scholastischen Blick, welche auch das Bourdieusche Werk auszeichnet. Der als großer deutscher Ironiker (und ich meine das als Widerspruch) noch unentdeckte Niklas Luhmann hat in einem Aufsatz mit dem schön hegelianischen Titel "Die Praxis der Theorie" schon früh verraten, daß er in seinem Theorielabyrinth spezielle Gänge anlegt, in die er seine Kritiker lockt, um sie dort in begrifflich geschmiedeten Kerkern bei Wasser und Brot schmachten zu lassen. Auch schlägt er Zitiertechniken vor, um die Gesellschaft der Freunde und Förderer seiner Theorie zu gründen, zu integrieren und größer erscheinen zu lassen als sie ist usw. usf. Diese Spielchen sind das genaue Gegenbild zu der Art, wie Bourdieu Soziologie begreift und betreibt. Soziologie als "reine" Theorie ist ihm ein Greuel, ja eine Lebenslüge der Intellektuellen, denn sie verführt zum Selbstgespräch, entlastet von der Feldforschung, den Archiven, der Ethnographie, der Recherche, den Interviews, alles sehr mühsame Dinge. Demgegenüber versucht Bourdieu erkenntnistheoretische Fragen der modernen Philosophie auf unorthodoxe Weise zu stellen und durch rigorose Rückbindung an gesellschaftliche Empirie zu beantworten. Er betreibt Philosophie als empirische Soziologie und verführt so die Leser mit seiner Liebe zum Detail, die, theoretisch inspiriert, das Exemplarische aufdeckt, zur Sprache und zum Leuchten bringt. Ich spreche selbstverständlich von dem Buch Die feinen Unterschiede, nicht weniger von dem soeben endlich im Deutschen erschienen kolossalen Werk Das Elend der Welt. Es spiegelt wie kaum ein zweites den Bourdieuschen Geist wider, in dem sich eigenwillige Wissenschaft und politisches Engagement zu einem öffentlichen Ereignis mischen. Dafür gibt es in der gegenwärtigen Soziologie nichts Vergleichbares. In einem nicht-metaphorischen Sinn wird hier Soziologie als Kunst praktiziert. Daß Soziologie, will sie öffentlich werden und wirken, auch Kunst, Wahrnehmungskunst, Sprachkunst sein, werden muß, ist der Main-Stream-Soziologie entfallen (die Klassiker wußten es); mehr noch: jede Erinnerung daran ist ihr ein Greuel. Daß aber diese Kunstfähigkeiten aufs Innerste mit der politischen Absicht und Wirkung zusammenhängt, hat der Main-Stream nie begriffen. Nur wer versteht, wird verstanden! Nicht bemitleiden, nicht aufstacheln oder anprangern, aber jenen öffentlich zur Sprache verhelfen, die die Sprache verloren haben. "Politisch-sein" heißt dann für die in diesem Sinne "empirische" Soziologie daß man in der Lage ist zuzuhören, abzuwarten, still zu sein, zuzugucken, Fragen zu stellen, ohne jedoch dem eigenen Wissen abzuschwören. "Man müßte sagen: Ich bin hier, um Fragen zu stellen, um Verbindungen zwischen Antworten zu ziehen, um Interpretationen anzubieten... Das ist politische Arbeit."

Pierre Bourdieu drei ist der europäische Intellektuelle, der - um Ernst Bloch zu zitieren - "Widerstand der sozial-humanen Vernunft" leistet, "aktiv, ohne Ausrede." Bloch nannte dies "Pazifismus der Stärke" und grenzte es gegen einen "Pazifismus der Schwäche" ab, den er ein "häufiges Gemisch von Limonade und Phrase" nannte. Da alle großen Utopien gescheitert sind, argumentiert Bourdieu, können sich selbstkritische Intellektuelle nun endlich darauf besinnen, was sie ganz pragmatisch tun können, beispielsweise ihren Beitrag zu einem Europa der Bürger leisten. Dies mit dem unbeirrbaren Blochschen Blick auf die zu organisierende Mündigkeit getan zu haben und zu tun, macht den umtriebigsten europäischen Intellektuellen Pierre Bourdieu zum Ernst-Bloch-Preisträger 1997. Pierre Bourdieu ist ein abgeklärter, nach-postmoderner Aufklärer und davon brauchen wir, braucht Europa mehr.

III. Bourdieus kreative Wut (und diese ist ja nötig) richtet sich gegen das "Modell Tietmeyer", den Neoliberalismus. Diese Ideologie der Weltmarktherrschaft ist so großartig falsch, so voller Vergessen, so absolut "dogmatisch", "ökonomistisch", "metaphysisch" (nennen Sie mir etwas intellektuell wirklich Schlimmes - der Neoliberalismus ist es), das ist wunderbar. Da stimme ich Bourdieu voll zu. Das ist eine Wiederbelebungsquelle für den kritischen Geist in diesen unsicheren Zeiten.

In einem Interview hat Pierre Bourdieu vor einiger Zeit empfohlen, daß alle bekennenden Neoliberalen mit einem Hubschrauber über den Slums von Manhattan oder den Favelas von Rio de Janeiro abgesetzt werden sollten. Er sei überzeugt, hat er gesagt, daß sie nach zehn Tagen, wenn überhaupt, als Sozialstaat-Konvertiten zurückkämen.

Wenn ich so etwas lese, frage ich mich verwundert, warum in den wenigen öffentlichen Begegnungen, die wir miteinander hatten, kaum die Gemeinsamkeit, immer aber die Differenzen hervortraten. Mein Versuch einer Antwort - nach langem Nachdenken - lautet: Es ist auch der Fortschritt des Mißverstehens, der sich darin zeigt. Wer von "europäischer Verständigung" redet, lebt im Nicht-Europa. Uns, die wir Zeugen und Akteure (oder Passivisten) eines dramatischen Zusammenwachsens Europas werden, muß es um mehr gehen, also weniger. Viel wäre erreicht, wenn wir fürs erste das europäische Mißverstehen eingestehen, aufdecken, zur Sprache bringen und Regeln des gehegten Umgangs miteinander im endlich wenigstens als großes Mißverständnis nicht länger zu ignorierenden Europa finden und praktizieren. Man sollte nicht vorschnell von den paradiesischen Zuständen produktiver Mißverständnisse schwärmen. So weit ist es wohl noch nicht. Und doch ist es sehr wohl ein Fortschritt, sich mißzuverstehen, erstens weil man sich nicht länger anschweigt. Und zweitens, weil das Sich-Mißverstehen-Müssen ein Gradmesser ist für das Zusammenwachsen der Welt. So verstanden ist das oft lächerliche, tragikomische Gesetz des Mißverstehens ein Anzeichen dafür, daß Europa wirklicher wird, sich von einem Ideal der Festreden zum profanen Aneinandervorbeireden mausert. Gilt dies innerhalb Europas, so gilt dies mehr noch im Verhältnis zu den anderen Kontinenten der Welt, zu Südamerika, Afrika, Asien. Allerdings: In der Falle, zu der die Welt geworden ist, sind diese Kultur- und Diskursblockaden nicht länger zu ignorieren. Insofern haben wir den Fortschritt vom Verschweigen-Können zum Nicht-mehr-darüber-Schweigen-Können zu feiern.

In einem Gespräch in Israel antworteten auf meine erstaunte Frage, warum im Verhältnis zu den Palestinensern selbst in kritischen Massenmedien nur von Fragen der militärischen Sicherheit und der wirtschaftlichen Entwicklung und gar nicht von Verständigung die Rede sei, meine israelischen Gastgeber: "Das höchste, was wir erreichen können, ist eine geregelte Scheidung zwischen Israelis und Palestinensern." Darüber sind wir im Europa nach zwei Weltkriegen, der faschistischen Barbarei und dem Ende des Kalten Krieges hinaus. Das höchste aber, das wir Europäer erreichen können, ist eine Verständigung über die fortbestehenden Diskurs-Grenzen - und über sie hinweg.

Vielleicht nimmt ja allgemein die Möglichkeit und die Bereitschaft zur Verständigung ab. Aber hier handelt es sich doch um etwas anderes. Das Mißverstehen, das leicht zwischen europäischen Intellektuellen regiert, ist zugleich tiefer, weil kaum ein öffentlicher Zwang besteht, es aufzudecken und auszutragen. Aus demselben Grund ist dieses Mißverstehen auch leichtfüßiger, leichtsinniger, weil ihm immer der Fluchtweg in die provinzielle Selbstgenügsamkeit des grenzübergreifenden Schweigens und Verschweigens offensteht.

Bitte verzeihen Sie, lieber Pierre Bourdieu, wenn ich als Beispiel unsere "Begegnungen" herausgreife. Es geht mir weder um Rechtfertigung noch um Anklage, ja es geht mir noch nicht einmal um Sie oder mich, sondern um das möglicherweise Exemplarische, das sich darin zeigt. Kann man eindrucksvoller aneinander vorbeireden, als wir dies jüngst öffentlich in Frankfurt in einer Diskussion über Globalisierung taten? Erinnern Sie sich? Sie nannten mich einen "Stalinisten", während ich sie anlächelte, in der falschen Gewißheit, sie sprächen über jemand ganz anderen. Wahrscheinlich habe ich Sie dazu angestachelt, weil ich einen "linken Protektionismus" geißelte, für den "Globalisierung" ein anderes Wort für "doch recht gehabt" sei. Ich sagte, hier werde ein marxistisches Osterfest - Wiederauferstehung - gefeiert. Das war überhaupt nicht gegen Sie gemünzt.

Nun kann man meinen: Endlich flogen die Fetzen. Aber sie taten es nicht. Das Mißverständnis regierte unausgesprochen, war nicht aufklärbar, geschweige denn aufhebbar. Und das ist symptomatisch. In Cambridge, wo Tony Giddens und sein Kreis uns zu einer Debatte über "Reinventing the Left" eingeladen hatte, ist uns ähnliches widerfahren. Die Briten schwärmten zwar noch wochenlang danach in ihrer diskreten Art: "Wasn't it a brilliant evening!" Aber für uns Teilnehmer war es misunderstanding as usual.

Ein Schulbeispiel dafür ist die Debatte um Globalisierung: ein einziges transnationales Mißverstehen in Europa, das noch nicht einmal bemerkt wird! Die Briten diskutieren seit mehr als zehn Jahren über das "g-word". Aber sie tun sich auch leicht. Zum einen ist das Englische eine Weltsprache; man kann als Brite ein Fremdsprachen-Analphabet sein und ein global player. Zum anderen war Großbritannien ein Weltreich, und Globalisierung ist eine schöne Erinnerung daran. Demgegenüber gehören Frankreich und Deutschland zu den Globalisierungs-Verlierern. Sie sitzen in der Zwickmühle des Sozialstaates: Die wirtschaftliche Entwicklung entzieht sich der staatlichen Kontrolle, während ihre sozialen Folgen - Arbeitslosigkeit, Migration, Armut - sich in den Auffangnetzen des Sozialstaates sammeln. Was tun?

Mißverstehen ist aber auch insofern ein Fortschritt in Europa, weil sich darin das unfreiwillige Anerkennen kultureller Differenz und Vielfalt sein Recht verschafft. Wer wollte ein Europa, in dem alle die Besonderheiten der Literaturen und Kulturen opfern für - wie dies Jakob Burkhardt formulierte - den zweifelhaften Fortschritt "durchgehender Nachtzüge"? Wie arm wäre ein Europa, in dem der weltläufige, ungebrochene, unbrechbare Aufklärungs-Universalismus eines Jürgen Habermas im postmodernen Paris auf Verständnis stieße? Auch kann niemand wirklich ein Europa wollen, in dem das neuromantische, ökologische Weltgewissen der Deutschen jenseits des Rheins nicht spöttisch mit "Le Waldsterben" quittiert wird. In dem die zwei Tonies - ich meine Tony Giddens und Tony Blair und ihre Theorie und Politik "jenseits von Links und Rechts" - nicht mit dem Wort Adornos konfrontiert werden: Wer denkt, er stehe jenseits von links und rechts, steht rechts. Vielleicht ist sogar das europäische Hinterwäldlertum, diese real existierende Internationale des Aneinandervorbeiredens, die Zukunftsvision Europas - gegen die drohende kapitalistische Internationale des Big-Mac-ismus? Aber wir wollen hier nun auch nicht das Mißverstehen romantisieren.

 

IV. Ich wiederhole: Ein gültiger Indikator für die innere Grenzenlosigkeit Europas, die entstehende europäische Dichte und die Enge ist die neue Grenzenlosigkeit des Mißverstehens. Europäische Intellektuelle müssen miteinander um Europa streiten, weil Europa inzwischen mehr und wirklicher geworden ist, als es die sacharin-süße Formel der "europäischen Verständigung" zuläßt.

Es ist bezeichnend, daß Ernst Bloch im USA-Exil Europa für sich neu entdeckte. "Amerika hat das Unerwartete hervorgerufen, mich quasi anglophil zu machen", schreibt er 1944 an Joachim Schumacher. "Gehören doch mein London, meine Bakerstreet, mein Chelsea, mein Scotland Yard, mein Chesterton, mein Oliver Twist, meine Dunhill und Peterson-Pipeshops und der ganze Tee -, selbst der altmodische Kontorgeruch zu Europa. Zur Heimat, wo Endlichkeit, Unendlichkeit und der ganze Zimt erst entdeckt worden ist." Dieser "ganze Zimt" steht neu zur Diskussion, weil "Europa" nicht mehr nur die Idee ist, die man diesem durch den Zweiten Weltkrieg und den deutschen Faschismus verwüsteten Kontinent von außen entgegenhalten konnte und mußte; und weil Europa nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtblocks sich in einem rapiden Prozeß des ein- und ausgrenzenden Zusammenwachsens befindet. Dabei droht das Prinzip Hoffnung in ein Prinzip Enttäuschung umzuschlagen. Da ist vor allem die Hoffnung auf ein "Europa der Bürger". Will man dieses wirklich europäisch ausformulieren, dann muß man vielsprachig auch oder vor allem vom Europa des Citoyen, des Citizen, Burgermaatschappij usw., doch den Gegensätzen sprechen, die in den je vorherrschenden Kulturen der Einsprachigkeit verborgen bleiben. Jeder dieser nationalkulturellen Schlüsselbegriffe steht nämlich bekanntlich für je einen anderen Weg in die politische Moderne, damit für einen anderen historischen Erfahrungs- und Erinnerungshorizont, der bis heute das Demokratieverständnis, die politischen Institutionen und Kulturen der europäischen Teilstaaten zutiefst prägt. Allein die Schwierigkeit, diese Schlüsselbegriffe des politischen Europa - Citoyen, Citizenship, Staatsbürgerschaft etc. - zu übersetzen, zeigt den Pegel der verdeckten Mißverständnisse an, die mit dem Zusammenwachsen Europas unvermeidlich hervorbrechen werden. Dies gilt nicht nur für die Wertvorstellungen des Politischen im gegenwärtigen und zukünftigen Europa. Es gilt zugleich auch für die Begriffe der Zustandsbeschreibung und Selbstbeobachtung, über die Europa verfügt.

Denn was bildet sich denn da als zunächst einmal westliches Teil-Europa im Machtraum bürokratischer Routinen und ökonomischer Zweckbündnisse eigentlich heraus? Die pure Negation des gängigen Denkens und Hoffens über Europa! Das ist sicher kein "geheiligter Verein" (Leopold von Ranke). Das ist die Ernüchterung als verselbständigter Prozeß (von Ausnüchterung kann nicht die Rede sein, weil Europa niemanden besoffen macht). Das ist aber selbst im ungünstigsten Fall auch mehr als das viel verteufelte Markt-Europa. Als Walther Rathenau die Utopie einer europäischen Gemeinwirtschaft entwarf, wagte er die prophetischen Worte: "Verschmilzt die Wirtschaft zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen, als wir denken, so verschmilzt auch die Politik." Und er fährt fort: "Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation."

Aber: Das politische Europa, das vielleicht als zunächst ungesehene Nebenfolge der gemeinsamen europäischen Währung möglich wird, entzieht sich den gängigen Vorstellungen und Visionen von Europa - und kaum einer bemerkt es. Das ist die leider nicht verlorene Mitte des herrschenden europäischen Selbstmißverständnisses. Wir leben in einem unbekannten, unbenannten Europa der Gänsefüßchen, das sich hinter den falschen Begriffen und Kontroversen in Politik und Öffentlichkeit dramatisch entwickelt.

Neuerdings wird wieder das "Europa der Vaterländer" im Sinne Charles de Gaulles beschworen. Aber das ist pure Ideologie. Ähnlich wie die Rede vom Europa als Vaterland. Denn beide Sprachformeln konservieren letztlich die Geschichte innereuropäischer Kriege, die sie überwinden wollen.

Im Lichte der Politikwissenschaft erscheint die Europäische Union dann oft nur "internationale Organisation" zu sein - eine Art verstetigter Wiener Kongreß. Andererseits, sagen andere, trägt sie doch schon governementale Züge von "domestic politics", eigener Staatlichkeit, europäischer Innenpolitik samt durchgreifender Gerichtsbarkeit. Immer wieder gibt es Anläufe, diese Janusgesichtigkeit im Sinne eines "europäischen Föderalismus" aufzulösen - etwa nach dem alten Bild der "Vereinigten Staaten von Europa".

Dagegen gilt das Nichts-von-alledem!, das Wolf Lepenies melancholisch dem falsch gewordenen Selbstverständnis der europäischen Intellektuellen entgegenhält. Denn fragwürdig wird in der neuen, wünschenswerten Enge Europas im Zeitalter der Globalisierung die Gleichung Bürgerrechte - Staatsbürgertum - Nationalität, samt allem, was aus ihr folgt und sie bislang begründet hat. Denn es ist diese (letztlich nur noch in Ratlosigkeit gründende) Gleichsetzung von Demokratie mit Nationalstaat, welche die Selbstverständigung über Europa lähmt und blind macht für das, was längst entsteht. Wenn die Soziologie der Globalisierung eines geleistet hat, dann ist es, diese territoriale Denkfalle des nationalstaatlichen Demokratieverständnisses aufgedeckt und aufgebrochen zu haben. Man könnte in diesem Sinne von einem "methodologischen Nationalismus" sprechen, in dem das Denken über Europa in Europa befangen ist.

Demgegenüber zeichnet sich ein Bild von Europa als einem Geflecht von Transnationalstaaten ab. Diese grenzen sich nicht national gegeneinander ab, sondern suchen sich als Provinz der Weltgesellschaft politisch neu zu bestimmen und zu entfalten. Um einen wichtigen Unterschied herauszugreifen: Vielleicht gilt für Transnationalstaaten nicht mehr die alte Prämisse eines demokratischen Nullsummenspiels. Das heißt: Nur so lange unterstellt wird, daß politische Macht und Legitimität an einen Ort fixiert ist, bedeutet die Abgabe von Macht an die Europäische Union automatisch Entmachtung der nationalen Demokratie. Wenn man dagegen sieht, daß die Durchsetzung demokratischer Rechte viele Wege, Arme, Kanäle, Sicherungen kennt und braucht - supranationale, transnationale, nationale, regionale, substaatliche usw. -, dann kann die Ermächtigung Europas sehr wohl mit einer Stärkung seiner Demokratien vor Ort einhergehen. Im Gegenteil: Das Insgesamt-Quantum einer europäischen Demokratie würde in dem Maße wachsen, in dem die demokratische Zurechenbarkeit und Verantwortung auf den verschiedenen Ebenen verbessert oder hergestellt wird. An die Stelle des nationalstaatlichen Nullsummen-Spiels könnte so - im Sinne eines utopischen Realismus (Bloch) - ein transnationales Positivsummen-Spiel der Demokratie treten. Wie dies möglich wird, das könnte der Kern eines nun endlich produktiven Mißverstehens in Europa werden.

V. Damit sind wir wieder bei Pierre Bourdieu und seinem Pragmatismus des tätigen Europäertums, das der Herstellung transnationaler Netze und Öffentlichkeiten dient. Auch zu diesem Ziel führen viele Pfade und Wege, die alle begangen oder erprobt werden müssen. Die schon erwähnte neue Studie Bourdieus und seiner Mitarbeiter "Das Elend der Welt" öffnet den Blick für die heraufziehenden Spaltungen der Weltbevölkerung in globalisierte Reiche und lokalisierte Arme (Zygmunt Bauman). Jene überwinden den Raum und haben keine Zeit, diese sind an den Raum gefesselt und müssen ihre Zeit, mit der sie nichts anfangen können, totschlagen. Diese Verstummten, Herausgefallenen haben Bourdieu und seine Mitautoren aufgesucht, ihnen haben sie zugehört und ihre soziologisch geübte Stimme geliehen. Das Faszinierende an dieser Reise in die sprachlose Welt der Marginalisierten ist nicht zuletzt, daß an den scheinbar unerheblichen Selbstdarstellungen ihres eigenen Lebens die Stereotypen zerbrechen, mit denen wir uns in einer Art "neuer Apartheid" gegen sie abzuschirmen versuchen.

Die Armen der globalen Ära sind nicht - wie Zygmunt Bauman sagt - die "Kinder Gottes", an denen man Wohltätigkeit praktiziert. Sie sind nicht die "Reservearmee", die "marktfit" gemacht werden muß. Sie sind nicht die "Konsumenten", die man zum Kaufen verführen muß, um das Bruttosozialprodukt anzuheizen. Sie leben - sagt Bauman - auf der anderen, abgewandten Seite des Mondes. Was meint: Sie leben durch den Abgrund des Nicht-mehr-Gebrauchtwerdens von uns getrennt unter uns. Für diese wachsende Nicht-Gruppe der Herausfallenden, Herausgefallenen, wäre selbst der Begriff der Klassen-"Gesellschaft" ein Euphemismus, weil er die Abhängigkeit - im Sinne Hegels - des Herrn vom Knecht unterstellt.

Wir werden, lieber Pierre Bourdieu, schnell Einverständnis darüber erzielen, daß dem Bankrott des Staatssozialismus keine Krokodilsträne nachgeweint werden muß. Und doch bleibt - wie diese Studie eindrucksvoll zeigt - der Sozialismus eine notwendige Utopie, die nur "um den Preis realitätsblinder Selbstgerechtigkeit aus dem öffentlichen Diskurs vertrieben werden kann" (Lepenies). Dies gilt um so mehr, wenn dieses Paradox der Hoffnung erlaubt ist, je nachhaltiger die neoliberalen Vergötzer des Marktes (scheinbar) siegen.
   

 

Ulrich Beck         
    

   
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