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  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Vom feinen Unterschied
 Philosoph des symbolischen Kapitals:
 Zum Tod des großen französischen Soziologen Pierre Bourdieu.



Rolf Spinnler, Der Tagesspiegel, 25/01/02.

 


    

Als man in Deutschland Ende der 60er Jahre neugierig nach Paris blickte, um unter den französischen Intellektuellen Korrespondenzen zu Horkheimer und Adorno, Marcuse und Habermas ausfindig zu machen, wurden die Namen Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu präsentiert. Die meisten aus dieser Gelehrtenschar leben heute nicht mehr, so dass Pariser Zeitungen schon nostalgische Töne anstimmten, als vor einigen Jahren die Lacan-Biografie von Elisabeth Roudinesco noch einmal die heroischen Zeiten jener französischen Meisterdenker beschwor, die sich um das magische Datum des Mai 1968 gruppierten. Am Mittwoch Abend ist als einer der letzten großen Geistesmusketiere in einem Pariser Krankenhaus im Alter von 71 Jahren auch der Soziologe Pierre Bourdieu an einer Krebserkrankung gestorben.

Bourdieu wurde am 1. August 1930 in einem kleinen Ort in den französischen Pyrenäen geboren. Nach einem Studium der Philosophie und Ethnologie an den renommierten Pariser Elite-Hochschulen arbeitete er zunächst kurze Zeit als Lehrer, schlug dann aber eine akademische Laufbahn ein. Sie wurde schließlich 1982 mit der Aufnahme ins Allerheiligste der französischen Akademikerelite gekrönt: Der Berufung ans Collège de France, wo Bourdieu den Lehrstuhl für Soziologie erhielt. Die entscheidende Etappe bei dieser Karriere war ein Forschungsaufenthalt in Algerien von 1958 bis 1960, wo Bourdieu Studien über das Berbervolk der Kabylen betrieb und dabei allmählich seinen eigenen theoretischen Ansatz entwickelte.

Die Soziologie war ja im 20. Jahrhundert ein noch junges Fach und bildete in den verschiedenen Ländern Europas und Nordamerikas jeweils eigene nationale Traditionen und Schulen. In Frankreich entwickelte sie sich aus der Ethnologie heraus. Emile Durkheim, Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss waren hier die Gründerfiguren. Moderne Gesellschaften gehorchen ähnlichen Strukturprinzipien, wie sie sich auch schon in archaischen Gesellschaften aufspüren lassen, lautete das Credo dieser Schule.

Bourdieu begann seine Arbeit in Algerien in dieser Tradition des ethnologischen Strukturalismus. Doch dann begann er diesen Ansatz schrittweise zu revidieren und seine eigene Konzeption zu entwickeln. Dem "Objektivismus" der Strukturalisten hielt er die Beobachtung entgegen, dass die handelnden Personen in einer Gesellschaft zwar einem bestimmten Regelwerk folgen, aber gleichzeitig in der praktischen Anwendung dieser Regeln auch einen eigenen Handlungsspielraum entwickeln.

Damit war freilich keine Rückkehr zu jener Theorie der absoluten subjektiven Freiheit gemeint, wie sie der Existenzialist Sartre vertreten hatte, gegen den der Strukturalismus einst zu Felde gezogen war. Bourdieu zielte mit seinen Kategorien der Kultursoziologie vielmehr auf einen dritten Weg, der die Alternative zwischen einem strukturalistischen Objektivismus und einem existenzialistischen Subjektivismus unterlaufen sollte. Der Soziologe muss über eine doppelte Perspektive verfügen: über ein profundes Insiderwissen aus der Sicht der handelnden Personen und über den distanzierten Blick von außen. Einige dieser kultursoziologischen Kategorien wie "sozialer Habitus", "soziales Feld", "symbolisches Kapital" oder "Distinktionsgewinn" sind inzwischen so sehr ins Allgemeinbewusstsein eingesickert, dass niemand mehr weiß, wer sie eigentlich erfunden hat. Aber vielleicht ist ja gerade das ein Indiz dafür, dass die Theorie, der sie entstammen, inzwischen einen klassischen Status erreicht hat.

Unter "Habitus" versteht Bourdieu jene Fähigkeiten, Gewohnheiten, Einstellungen und Überzeugungen, über welche die Mitglieder einer Gesellschaft gleichsam automatisch verfügen, weil sie ihnen zur zweiten Natur geworden sind. "Bildung" meint, so gesehen, nicht das bewusst angeeignete Wissen, sondern umfasst jene Reaktionsweisen, Geschmacksurteile und Lebensstile, die wir uns seit unserer frühesten Kindheit einverleibt haben. Welchen Wein man zu welchem Gericht trinkt, wie man sich bei einer Einladung anzieht, welche Musik man hört - all das macht den sozialen Habitus einer Person aus.

Diese Haltungen kann man sich nicht im Schnellkurs aneignen, sie müssen einem so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass sie jederzeit automatisch abgerufen werden können. Man müsse davon ausgehen, sagt Bourdieu, dass wir "in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind".

Wenn Bildung und Kultur auf derart einverleibten Fähigkeiten beruhen, dann ist freilich die liberale Parole von der Chancengleichheit im Bildungssystem pure Fiktion, behauptet Bourdieu. Auf allen "sozialen Feldern" finden nämlich heftige Klassenkämpfe statt, bei denen sich die Eliten gerade durch ihren spezifischen Habitus von den sozialen Aufsteigern abgrenzen.

Bourdieu versucht also, die Marx'sche Theorie vom Klassenkampf, die im ökonomischen Bereich allen Kredit verloren hat, auf einen zeitgemäßeren Stand zu bringen. Der Kampf um soziale Anerkennung vollzieht sich als Kampf um die Anhäufung von Prestige. Dieses "symbolische Kapital" setzt sich zusammen aus dem ökonomischen Kapital, also dem materiellen Besitz, dem kulturellen Kapital, also den erworbenen Kulturtechniken und dem sozialen Kapital, also dem Netzwerk der sozialen Beziehungen, über die jemand verfügt. In seinem vielleicht bekanntesten Werk, dem 1979 erschienen Buch "Die feinen Unterschiede", hat Bourdieu die Strategien zur Anhäufung von symbolischem Kapital, ausführlich beschrieben. Es geht dabei immer um die Unterschiede in den Lebensstilen, durch die man sich von anderen abgrenzt und damit einen "Distinktionsgewinn" erzielt.

Dabei gibt es bei diesen Machtspielen keine neutrale Position, weil die Festlegung dessen, was als fein, elitär oder snobistisch zu gelten hat, immer selbst Gegenstand des Streits ist. Mit diesem kultursoziologischen Instrumentarium hat Bourdieu die Lebensstilforschung nachhaltig beeinflusst - auch dort noch, wo die Markt- und Trendforscher jene kritische Intention preisgegeben haben, die hinter Bourdieus Theorie steht.

Scharfsinnige Beobachter haben schon immer auf das Paradox hingewiesen, dass der Kritiker der Machtkämpfe um die feinen Unterschiede selbst ein Sprössling jenes elitären französischen Bildungssystems ist, das er analysiert. Und sie wenden gegen Bourdieu ein, dass der globale Kapitalismus nicht mehr nach jenen Besonderheiten der nationalen Kulturen frage, die erst den Rahmen für eine Hierarchie der feinen Unterschiede abgeben. Das globale Kapital ist kulturell neutral. Bill Gates mag nach den Kriterien der französischen Elite ein Banause sein, ist aber trotzdem einer der reichsten und einflussreichsten Männer der Welt. Bourdieus Kontrahenten werfen ihm also einen latenten Kulturkonservativismus vor und fühlen sich in diesem Urteil durch die vehemente Kritik bestätigt, die der französische Soziologe an der Globalisierung im Zeichen des Neoliberalismus geübt hat.

Auch gegenüber der europäischen Währungsunion war Bourdieu skeptisch, weil er darin eine Vorherrschaft der Ökonomie über das politische Prinzip der Volkssouveränität erblickte. Hatte Bourdieu seine akademische Laufbahn einst damit begonnen, dass er dem "engagierten Intellektuellen" vom Typus Sartres die solide wissenschaftliche Forschung entgegenstellte, so wurde er im vergangenen Jahrzehnt selbst zu jemandem, der sich zu allen möglichen politischen Themen äußerte. Doch sowohl in der einen wie in der anderen Rolle war er ein herausragender Repräsentant des klassischen französischen Bildungsbürgertums, dessen Stimme man ab heute vermissen wird.
  
 


Pierre Bourdieu

       
 

   
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