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  Pierre Bourdieu

 
   

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Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Ethnologe der eigenen Kultur
 Zum Tode Pierre Bourdieus




Ulrich Johannes Schneider, Berliner Zeitung, 25/01/02.

 


  

Mit dem Tod von Pierre Bourdieu am Mittwochabend hat die französische Gesellschaft einen engagierten Streiter für die Rechte der Benachteiligten und der Unterdrückten verloren, der an der Seite von streikenden Eisenbahnern gegen die Globalisierung protestierte, der die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Weltbank-Weltmarktordnung in düsteren Farben malte. Die Intellektuellen weltweit verlieren einen Denker, für den kein Ersatz in Sicht ist. Denn Bourdieu verband auf besondere Weise Wissenschaft mit gesellschaftskritischer und medienkritischer Reflexion.

Geboren am 1. August 1930 in den Pyrenäen, studierte er Philosophie in Paris und lehrte zuerst ab 1958 in Algier, im damals noch französischen Algerien. Seine steile Karriere führte ihn zuletzt auf den Soziologie-Lehrstuhl des Collège de France. Bourdieu unterrichtete auch in den USA und nahm gelegentlich an politisch-philosophischen Debatten in Deutschland teil. Sein Werk umfasst über zwanzig Bücher; er war Herausgeber von Zeitschriften und Buchreihen; als Forschungsdirektor hat er mit zahlreichen Projekten die Soziologie als empirisch-kritische Wissenschaft stark gemacht.

Teilnehmende Objektivierung

Von Bourdieu stammen Studien zu fast allen Bereichen des postkolonialen bürgerlichen Lebens. Er hat sich als Soziologe um die "Ethnologie der eigenen Kultur" bemüht und blieb trotz allen Engagements bis zum Schluss der Professor, der "Homo academicus" (ein Buchtitel von 1984) ein akademisch einflussreicher Gelehrter. Seine Gesellschaftskritik nährte sich aus der Idee "teilnehmender Objektivierung" und schloss die soziologische Einsicht mit dem Protest gegen undurchschaubare Verhältnisse im Lehrbetrieb oder in der Medienwelt kurz. Bourdieu verband wissenschaftlichen Anspruch mit politischem Einspruch. Er gründete neue Foren, etwa die Buchreihe "Raisons d’agir", die ab 1996 auf Anhieb erfolgreich war. Hier schrieb er oder ließ Gleichgesinnte über das schreiben, was den Rahmen akademischer Bücher sprengte und was auch nicht in Bourdieus renommierte Zeitschrift "Actes de La recherche en sciences sociales" hineinpasste.

Bourdieu war Wissenschaftler, er vertraute auf die Kraft der Vernunft, auf methodisch erarbeitete Einsicht. Ähnlich wie die philosophischen Zeitgenossen seiner Generation - etwa der bereits 1984 gestorbene Michel Foucault oder Jacques Derrida - operierte Bourdieu im klassischen Sinn der Aufklärung kritisch: durch Analyse und Überlegung, zusätzlich gestützt auf Empirie. Anders als Sartre, der in Literatur und Kunst sein politisches Publikum suchte, steht Bourdieu für diejenige Richtung der Intellektuellen, die durch "Gegenwissen" mobilisieren wollen, durch Reflexion verändern.

Und hier setzt seine Würdigung der ambivalenten Rolle des Fernsehens an: "Die Besonderheit der neuen Kampfformen besteht darin, dass sie einiges an Auftrieb durch die Öffentlichkeit erhalten, die ihnen, manchmal wider Willen, von den Medien verschafft wird: Die Anzahl der Demonstranten ist weniger wichtig als das durch eine Demonstration oder eine Aktion, etwa einen gut platzierten Zeitungsartikel, ausgelöste Echo in den Medien und der Politik." Um dieses Echo ging es Bourdieu.

Soziologische Studien sind meist empirisch, das Material des Soziologen jedoch sind gesellschaftlich konstruierte Größen, nicht einfache Verhältnisse. So bezog sich die Forschung von Bourdieu auf den "Habitus", auf das anspruchsgesättigte Verhalten der Menschen untereinander, wobei Bourdieu ein bemerkenswertes Gespür für die "feinen Unterschiede" (so ein Buchtitel von 1979) hatte - Unterschiede, die erst gesetzt werden, nicht schon vorhanden sind.

Die funktionierenden Distinktionsmerkmale der Gesellschaft, sei es ästhetischer Geschmack, Kunstverständnis, Bildung oder wissenschaftliche Autorität, lassen sich allesamt auf die Anstrengung zurückführen, bestimmte Werte und Kriterien durchzusetzen. Bourdieu hat diese Unterschiede auf vielen Feldern untersucht, auf dem "literarischen Feld", dem Kunst - und Ausstellungswesen und insbesondere auf dem Feld der wissenschaftlichen Arbeit. Denn Bourdieu war geradezu besessen von dem Verlangen, seine eigenen Bedingungen zu thematisieren und sich selbst als Soziologe gegenübertreten zu können. So hat er in einer frühen Studie die Bildungswege von französischen Elitestudenten untersucht (zu denen er selbst einmal gehörte) und aufgedeckt, wie stark die Wahl bestimmter Themen und die Interessen für bestimmte Wissensgebiete von sozialen Bedingungen abhängen. Das ist noch das Thema seiner "Meditationen", die erst kürzlich auf Deutsch erschienen.

Tragödie der Kultur

Das Wort sozial wird bei Bourdieu zu einem Begriff, der insbesondere Werturteile und bewusst gelebte Vorurteile einschließt. Bourdieu versuchte, dieses Geflecht des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchsichtig zu machen und er ärgerte sich am stärksten über die Autoritätsanmaßung der Gebildeten, wie man am deutlichsten seinem soziologischen Versuch über Heideggers Sprache entnehmen kann, das ein einziges Plädoyer für Klarheit und Aufrichtigkeit ist. Freilich hat Bourdieu mit seiner radikalen Kritik an allem neo-intellektuellen Obskurantismus nie ein rechtes Verständnis dafür entwickeln können, warum sich in der Gesellschaft Bereiche gegeneinander isolieren, warum der Wille, sich auszuzeichnen, auch in Wissenschaft und Kunst ein starker Motor aller Aktivitäten ist (Georg Simmel nannte das vor über hundert Jahren schon die "Tragödie der Kultur").

Das "symbolische Kapital", das Bourdieu zum Arbeitsbegriff vieler seiner Untersuchungen erhob, definiert sich durch schwankende Kriterien im Spiel der Kräfte. Bourdieu setzte sein eigenes intellektuelles Kapital, seinen Ruf als Wissenschaftler, oft genug auf der intellektuellen Meinungsbörse ein. "Gegen die Politik der Entpolitisierung", wetterte er im letzten April in einem international verbreiteten Aufruf, "gilt es, politischem Denken und Handeln wieder ihren rechtmäßigen Platz einzuräumen und für dieses Handeln einen geeigneten Ansatzpunkt zu finden." Wohl wahr: aber doch nur eine Problembestimmung.

Das Bild des zornigen alten Mannes, der sich über das "Elend der Welt" (ein Buchtitel von 1993) empörte, auch über die Situation der Obdachlosen in Frankreich, hat jedoch nie den verzweifelten Ton überspielt, der die Entwicklung der Globalisierung in Worten beklagt, für die sich Taten kaum noch benennen lassen. Denn was zur Änderung der Verhältnisse führen könnte, war für Bourdieu nicht weniger fraglich als für uns, die wir bis eben noch seine Zeitgenossen waren.
   


Pierre Bourdieu

       
 

   
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