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  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Des entretiens
 

 
   

 

 

Pierre Bourdieu

 Alles seitenverkehrt
 Zivilisiert endlich den Kapitalismus!

 

 

GÜNTER GRASS und PIERRE BOURDIEU
Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass und der Soziologe Pierre Bourdieu im Gespräch.
Aus dem Französischen von Stephan Egger. Das vollständige Gespräch sendet Arte als Radio-Bremen-Produktion beim Themenabend "Günter Grass" am 5. Dezember um 20.45 Uhr. Die Radiofassung läuft am 29. Dezember im studio bremen (22.05-23.05 Uhr) auf Radio Bremen 2 (europaweit über Satellit Astra 1B, Transponder 19). - Le Monde veröffentlicht in diesen Tagen eine französische Übersetzung des Gesprächs. Die Zeit, 49/1999, 2. Dez. 1999.par Gabriele Wennemer.

 


   

 PIERRE BOURDIEU: Herr Grass, Sie haben irgendwo gesagt, es gebe eine europäische oder deutsche Tradition, die auch gute französische Tradition sei: den Mund aufzumachen. Ich möchte das hier mit Ihnen gemeinsam tun.

 GÜNTER GRASS: Für deutsche Erfahrungen ist es ungewöhnlich, dass ein Soziologe und ein Schriftsteller sich zusammensetzen. Hier sitzen die Philosophen meist in einer Ecke, die Soziologen in der anderen, und im Hinterzimmer zerstritten die Schriftsteller. Unsere Art von Kommunikation findet zu selten statt. Denn wenn ich an Ihr Buch Das Elend der Welt denke oder an mein letztes Buch Mein Jahrhundert, haben wir in unserer Arbeit eines gemeinsam: Wir erzählen Geschichte von unten. Wir sprechen nicht über die Gesellschaft hinweg, nicht aus der Position der Sieger, sondern sind berufsnotorisch aufseiten der Verlierer.

In Das Elend der Welt ist es Ihnen und Ihren Mitarbeitern gelungen, ganz auf das Konzept des Verstehens, nicht des Besserwissens zu setzen: eine Sicht der gesellschaftlichen Zustände in Frankreich, die sich durchaus übertragen lässt auf andere Länder. Ihre Geschichten verlocken mich als Schriftsteller, sie als Rohmaterial zu benutzen. Zum Beispiel die Schilderung des Narzissenwegs, wo Metallarbeiter, die oft in der dritten Generation in die Fabriken gegangen sind, nun arbeitslos sind und aus der Gesellschaft wie ausgeschlossen. Oder die Studie einer jungen Frau, die vom Land nach Paris kommt und in Nachtarbeit Briefe sortiert. In der Schilderung des Arbeitsplatzes werden soziale Probleme deutlich, ohne dass man sie plakativ in den Vordergrund stellt. Das hat mir sehr gefallen.

Ich wünschte, wir hätten in jedem Land ein derartiges Buch über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Einzige, was mir als Frage aufgefallen ist, gehört vielleicht zur Disziplin der Soziologie: Humor kommt in solchen Büchern nicht vor. Es fehlt die Komik des Scheiterns, die in meinen Geschichten eine große Rolle spielt, die Absurditäten, die sich aus bestimmten Konfrontationen ergeben. Woran liegt das?

 BOURDIEU: Wenn man solche Erfahrungen unmittelbar von den betroffenen Menschen zu hören bekommt, wirkt das ziemlich niederschmetternd, und es ist fast undenkbar, dabei den nötigen Abstand zu wahren. Wir haben zuletzt aus dem Buch mehrere Erzählungen herausgenommen, weil sie zu ergreifend waren.

 GRASS: Darf ich unterbrechen? Mit komisch meine ich, dass Tragödie und Komödie einander nicht ausschließen, dass die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen fließend sind.

 BOURDIEU: Letztlich wollten wir die brutale Absurdität den Lesern ohne jede Effekthascherei vor Augen führen. Angesichts menschlicher Dramen kommt man oft in Versuchung, "schön" zu schreiben. Wir haben stattdessen versucht, so schonungslos wie möglich zu sein, um der Wirklichkeit ihre gewalttätige Seite wiederzugeben. Dafür sprachen wissenschaftliche, aber auch literarische Überlegungen. Wir wollten nicht "literarisch" werden, um auf andere Weise literarisch sein zu können. Natürlich gab es auch politische Gründe. Wir empfanden die Gewalt des Handelns, die gegenwärtig die neoliberale Politik ausübt, als so groß, dass man ihr nicht allein durch theoretische Analysen gerecht wird. Das kritische Denken ist nicht auf der Höhe der Effekte, die diese Politik produziert.

 GRASS: Für meine Frage sollte ich ein bisschen weiter ausholen. Wir sind beide, Sie als Soziologe und ich als Schriftsteller, Kinder der Aufklärung, einer Tradition, die heute überall - jedenfalls in Deutschland und Frankreich - infrage gestellt wird, als sei der Prozess der europäischen Aufklärung gescheitert. Ich bin anderer Meinung. Ich sehe die Fehlentwicklungen im Prozess der Aufklärung, zum Beispiel die Reduzierung der Vernunft auf das rein technisch Machbare. Viele Aspekte, die es am Anfang gab, wenn ich nur an Montaigne denke, sind im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen. Unter anderem auch der Humor. Voltaires Candide oder Diderots Jacques le Fataliste zum Beispiel sind Bücher, in denen die Zustände der Zeit auch schrecklich sind, und dennoch bricht die menschliche Fähigkeit durch, unter Schmerz und im Scheitern noch eine komische und in dem Sinne siegreiche Figur abzugeben.

 BOURDIEU: Aber dieses Gefühl, dass uns die Tradition der Aufklärung abhanden kommt, hängt mit einer Umkehrung der gesamten Weltsicht zusammen, die durch die heute vorherrschende neoliberale Sicht der Dinge durchgesetzt wurde. Bei der neoliberalen Revolution, hier in Deutschland kann ich diesen Vergleich bemühen, handelt es sich doch um eine zutiefst konservative Revolution - in dem Sinne, wie man im Deutschland der dreißiger Jahre von einer konservativen Revolution sprach. Eine solche Revolution ist eine höchst seltsame Angelegenheit: Sie setzt die Vergangenheit wieder in ihre Rechte und gibt sich dabei als fortschrittlich aus, sodass diejenigen, die die Rückkehr zu den alten Zuständen bekämpfen, selbst in den Ruch kommen, von gestern zu sein. Das begegnet uns beiden häufig, wir werden ein ums andere Mal als ewig Gestrige behandelt: In Frankreich gehört man zum "alten Eisen".

 GRASS: Dinosaurier ...

 BOURDIEU: Ganz genau. Da ist sie, die große Macht konservativer Revolutionen, "fortschrittlicher" Restaurationen. Selbst Ihr Argument kann so ausgelegt werden. Man sagt uns, wir hätten keinen Witz. Aber die Zeiten sind nicht witzig! Es gibt nichts, über das man lachen könnte.

 GRASS: Ich habe nicht behauptet, dass wir in lustigen Zeiten leben. Das Höllengelächter, das man mit literarischen Mitteln entfesselt, ist auch ein Protest gegen die Zustände. Was sich heute als Neoliberalismus verkauft, ist ein Rückgriff auf Methoden des Manchester-Liberalismus im 19. Jahrhundert. Noch in den siebziger Jahren gab es in ganz Europa einen relativ erfolgreichen Versuch, den Kapitalismus zu zivilisieren. Wenn ich davon ausgehe, dass Sozialismus und Kapitalismus beide genial missratene Kinder der Aufklärung sind, so hatten sie eine gewisse Kontrollfunktion im Verhältnis zueinander. Selbst der Kapitalismus war Verantwortungen unterworfen. Wir nannten das in Deutschland soziale Marktwirtschaft, und bis in die konservative Partei hinein gab es das Einverständnis, dass Zustände wie in der Weimarer Republik nie wieder entstehen dürfen. Dieser Konsens wurde in den achtziger Jahre gebrochen. Seitdem die kommunistischen Hierarchien zusammenbrachen, meint der Kapitalismus verrückt spielen zu können, wie außer Kontrolle geraten. Es ist kein Gegenüber mehr da. Heute heben selbst die wenigen verantwortlichen Kapitalisten warnend den Finger, weil sie merken, dass ihre Instrumente aus dem Ruder laufen, dass der Neoliberalismus die Fehler des Kommunismus wiederholt, indem er Glaubensartikel in die Welt setzt, Unfehlbarkeit beansprucht.

 BOURDIEU: Aber die Macht des Neoliberalismus ist so überwältigend, dass er von Leuten ins Werk gesetzt wird, die sich als Sozialisten bezeichnen. Ob Schröder, Blair oder Jospin, es sind Leute, die sich auf den Sozialismus berufen, um neoliberale Politik zu machen. Dadurch werden Analyse und Kritik außerordentlich schwierig, weil alles seitenverkehrt ist.

 GRASS: Eine Kapitulation vor der Ökonomie.

 BOURDIEU: Gleichzeitig fällt es ungeheuer schwer, eine kritische Position links dieser sozialdemokratischen Regierungen zu entwickeln. In Frankreich gab es die großen Streiks von 1995, die weite Teile der Arbeiterschaft, Angestellte und auch Intellektuelle mobilisiert haben. Dann folgten die Arbeitslosenbewegung, der europäische Marsch der Arbeitslosen, die Bewegung der Einwanderer ohne Bleiberecht - eine Art permanenter Agitation, die die Sozialdemokraten an der Macht zwang, zumindest so zu tun, als führten sie einen sozialistischen Diskurs. Aber in der Praxis ist diese kritische Bewegung sehr schwach, zum großen Teil weil sie in nationalen Grenzen gefangen bleibt. Man muss auf internationaler Ebene eine wirksame Position links von den sozialdemokratischen Regierungen lebensfähig machen. Ich frage mich deshalb: Was können wir, die Intellektuellen, zu einer solchen Bewegung für ein "soziales Europa" beitragen? Die Macht der Herrschenden ist nicht allein eine ökonomische, sondern eine intellektuelle, geistige. Gerade deshalb gilt es, "seinen Mund aufzumachen", eine gemeinsame Utopie wiederherzustellen; denn zu den Fähigkeiten der neoliberalen Regierungen gehört es, Utopien zu töten, Utopien als überholt erscheinen zu lassen.

 GRASS: Die sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien haben teilweise selbst an die These geglaubt, dass mit dem Niedergang des Kommunismus auch der Sozialismus aus der Welt ist, und haben das Vertrauen in die ja weit länger als der Kommunismus bestehende Arbeiterbewegung verloren. Wenn man sich von der eigenen Tradition verabschiedet, dann gibt man sich auf. In Deutschland kam es allenfalls zu kleinen Ansätzen, die Arbeitslosen zu organisieren. Seit Jahren versuche ich den Gewerkschaften zu sagen: Ihr könnt doch die Arbeiter nicht nur betreuen, solange sie noch in Arbeit sind, und sobald sie ausgeschlossen sind, fallen sie ins Bodenlose. Ihr müsst europaweit eine Gewerkschaft der Arbeitslosen gründen. Wir jammern darüber, dass die Einigung Europas nur im ökonomischen Bereich stattfindet, aber es fehlt die Anstrengung der Gewerkschaften, aus dem nationalen Rahmen zu einer Organisations- und Aktionsform zu kommen, die über die Grenzen hinweg trägt. Dem globalen Neoliberalismus müssen wir Paroli bieten. Mittlerweile aber schlucken viele Intellektuelle alles herunter. Und vom Herunterschlucken kriegt man Magengeschwüre, mehr nicht. Man muss die Dinge aussprechen. Ich bezweifle deshalb, ob man sich allein auf die Intellektuellen verlassen kann. Während in Frankreich immer noch, so scheint es mir jedenfalls, ungebrochen von "den Intellektuellen" gesprochen wird, zeigen mir meine deutschen Erfahrungen, dass es ein Missverständnis ist, zu glauben, dass intellektuell sein gleich links sein bedeutet. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts beweist bis in den Nationalsozialismus hinein das Gegenteil: Ein Mann wie Goebbels war ein Intellektueller. Intellektuell sein ist für mich noch kein Qualitätsnachweis. Gerade Ihr Buch Das Elend der Welt zeigt doch, dass Leute, die aus der Arbeitswelt kommen, die sich gewerkschaftlich organisiert haben, weit größere Erfahrungen aus dem sozialen Bereich mitbringen als Intellektuelle. Heute sind sie entweder arbeitslos oder pensioniert, und niemand scheint sie mehr zu brauchen. Ihre Kraft bleibt völlig ungenutzt.

 BOURDIEU: Das Elend der Welt ist ein Versuch, den Intellektuellen ein sehr bescheidenes, aber gleichzeitig nützliches Amt zu übertragen: Der öffentliche Schreiber, wie ich ihn aus den Ländern Nordafrikas kenne, ist ein Schriftkundiger, der seine Fähigkeit in den Dienst der anderen stellt, damit sie die Dinge festhalten lassen, von denen sie Kenntnis haben. Die Soziologen befinden sich hier in einer ganz besonderen Lage; es sind Leute, die meist - nicht immer - zuhören können, die entziffern, was man ihnen sagt, es übersetzen und überliefern. Vielleicht ist das ein wenig zünftlerisch, aber ich halte es für wichtig, dass die Intellektuellen an dieser Arbeit teilnehmen.

 GRASS: Das hieße aber auch gleichzeitig, an die Intellektuellen zu appellieren, die dem Neoliberalismus nahe stehen. Darunter gibt es Leute, die zu zweifeln beginnen, ob dem völlig unkontrollierten Kreislauf des Geldes um den Globus, ob dem ausgebrochenen Wahnsinn innerhalb des Kapitalismus nicht widersprochen werden muss: zum Beispiel Fusionen ohne Sinn und Zweck, mit dem Ergebnis, dass 5000, 10 000 Leute arbeitslos werden. Allein die Profitmaximierung schlägt sich an der Börse nieder.

 BOURDIEU: Leider geht es nicht einfach darum, der herrschenden Meinung zu widersprechen. Um dabei Erfolg zu haben, muss man einen kritischen Diskurs verbreiten, ihn öffentlich machen können. In diesem Augenblick reden wir miteinander in der Absicht, über den engen Kreis der Intellektuellen hinauszureichen. Ich würde gerne ein wenig die Mauer des Schweigens aufbrechen - eben weil sie nicht einfach eine Mauer des Geldes ist. Das Fernsehen ist sehr zwiespältig: Es ist ein Instrument, das uns hier zu sprechen erlaubt und gleichzeitig unsereins zum Schweigen bringt. Wir werden ohne Unterlass von der alles beherrschenden Meinung bestürmt und überwältigt. Die Journalisten sind in ihrer großen Mehrheit oft unbewusste Komplizen des herrschenden Diskurses, dessen Einhelligkeit kaum zu brechen ist. In Frankreich ist es sehr schwierig - außer für einige hoch angesehene Persönlichkeiten -, an die Öffentlichkeit zu treten. Aber bedauerlicherweise werden viele Leute mit höheren Weihen stumm, und es gibt nur wenige, die das symbolische Kapital nutzen, um zu sprechen - auch um diejenigen zu Gehör zu bringen, denen die Worte fehlen.

 GRASS: Das Fernsehen hat natürlich, wie alle großen Institutionen, seinen eigenen Aberglauben geprägt: die Einschaltquote, deren Diktat man sich beugt. Deshalb kommen Gespräche wie das, das wir hier führen, in den großen Programmen kaum einmal vor, sondern eher auf Arte. Ich nehme nie an einer Talkshow teil. Ich halte deren Form für unmöglich, weil sie nichts transportiert. In diesem Gequatsche setzt sich der durch, der am längsten redet oder den anderen am rigorosesten ignoriert. Es kommt auch deshalb in der Regel nichts dabei heraus, weil der Moderator immer dann abbricht, wenn es interessant werden könnte, wenn es sich zuspitzt. Wir beide greifen auf eine Tradition zurück, die aus dem Mittelalter herrührt, auf den Disput. Zwei Personen, zwei verschiedene Meinungen, zwei Erfahrungen, die sich ergänzen: Da kann, wenn wir uns Mühe geben, einiges herauskommen. Vielleicht wäre das an diesen Moloch Fernsehen eine Empfehlung, mal auf bewährte, ein Thema zuspitzende Dialogformen zurückzugreifen wie auf den Disput.

 BOURDIEU: Leider müssen besondere Umstände zusammenkommen, damit sich die Produzenten des Diskurses, Schriftsteller, Künstler, Forscher, ihre Produktionsmittel wieder aneignen können. Ich drücke mich ganz bewusst in der etwas altertümlichen Sprache des Marxismus aus. Paradoxerweise haben heute die Menschen des Worts keine Kontrolle über die Produktionsmittel und Vertriebswege; sie müssen sich in Nischen zurückziehen, Umwege gehen.

 GRASS: Damit wir jetzt nicht ins Jammern geraten: Wir sind immer in der Minderheit gewesen, und das Erstaunliche ist, wenn man sich den Geschichtsprozess ansieht, wie viel man aus der Minderheit heraus bewirken kann. Man muss natürlich Taktiken entwickeln, um gehört zu werden. Ich sehe mich zum Beispiel als Bürger gezwungen, eine Generalvorschrift des Schriftstellers: "Bitte keine Wiederholungen!" zu brechen. In der Politik muss man fast wie ein Papagei eine These, die sich bewährt hat, wiederholen, was ermüdend ist, weil man das Echo der eigenen Stimme auch immer wieder vernimmt. Aber das gehört offenbar dazu, um überhaupt in einer so vieltönigen Welt noch irgendwo Zuhörer zu finden.

 BOURDIEU: Was ich an Ihrem Werk bewundere, ist Ihre Suche nach Ausdrucksmitteln, die eine kritische, subversive Botschaft an ein großes Publikum weitergeben können. Ich glaube jedoch, dass sich die Zustände heute sehr von jenen im Jahrhundert der Aufklärung unterscheiden. Die Enzyklopädie war eine Waffe, ein Kommunikationsmittel gegen den Obskurantismus. Zurzeit müssen wir gegen völlig neue Erscheinungen des Obskurantismus kämpfen.

 GRASS: Aber weiterhin als Minderheit.

 BOURDIEU: Nur waren die Gegenkräfte damals unvergleichlich schwächer. Heute haben wir es mit mächtigen Medienmultis zu tun, es bleiben allenfalls kleine Inseln übrig. Im Verlagswesen zum Beispiel wird die Publikation schwer verdaulicher oder kritischer Bücher immer mehr zum Problem. Und wenn ich mein Gespräch mit Ihnen als so wichtig empfinde, dann mit dem Gedanken, neue Formen zu erfinden, mit denen eine Botschaft erzeugt und weitergegeben werden kann. Anstatt Werkzeuge des Fernsehens zu sein, müssen wir es selbst zum Werkzeug der Verständigung machen, im Dienste dessen, was wir sagen wollen.

 GRASS: Der Spielraum ist begrenzt. Hinzu kommt etwas, was mich selbst verwundert: Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages mehr Staat fordern müsste. Wir hatten in Deutschland immer zu viel Staat, vor allem zu viel Ordnungsstaat. Nun aber geraten wir ins andere Extrem. Der Neoliberalismus hat, ohne damit ideologisch etwas zu tun haben zu wollen, die Wunschvorstellung des Anarchismus übernommen, den Staat abzuschaffen, ihn zur Seite zu drängen. Weg mit ihm, wir machen das schon. Wenn heute eine notwendige Veränderung auf dem Reformweg stattfindet, ob in Deutschland oder in Frankreich, passiert nichts, solange die Industrie, die Wirtschaft es nicht abnickt. Von dieser Entmachtung des Staates hätten die Anarchisten träumen können, und so befinde ich mich - und Sie wahrscheinlich auch - in der kuriosen Situation, dafür zu sorgen, dass der Staat wieder Verantwortung übernimmt, regulierend eingreift.

 BOURDIEU: Genau diese Verkehrung der Dinge meine ich. Aber können wir uns damit begnügen, "mehr" Staat zu fordern? Um sich nicht in den Schlingen der konservativen Revolution zu verfangen, müsste man darüber nachdenken, einen anderen Staat zu erfinden.

 GRASS: Damit wir uns nicht missverstehen: Der Neoliberalismus will natürlich nur die Dinge aus dem Staat heraushaben, die ihn wirtschaftlich interessieren. Der Staat darf weiter die Polizei stellen, den Ordnungsstaat repräsentieren. Aber wenn dem Staat die ordnende Kraft für die Gesellschaftsschichten weggenommen wird, die außerhalb stehen - nicht nur Sozialfälle, Kinder und alte Menschen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind oder noch nicht drinnen sind -, wenn sich hier eine Ökonomie breit macht, die vor jeder Verantwortung in irgendeinen Globalismus hineinflüchtet, muss der Staat, dann muss die Gesellschaft über den Staat Für- und Vorsorge treffen. Die Verantwortungslosigkeit ist das bestimmende Prinzip des neoliberalen Systems.

 BOURDIEU: In Mein Jahrhundert haben Sie eine Reihe von Ereignissen wachgerufen, zum Beispiel die Geschichte des kleinen Jungen, der zu einer Kundgebung Liebknechts mitgenommen wird und dann seinem Vater in den Nacken pinkelt. Ich weiß nicht, ob das eine persönliche Erinnerung ist, aber in jedem Fall ist es eine ganz eigene Art, den Sozialismus zu entdecken. Oder was Sie über Jünger und Remarque gesagt haben: Zwischen den Zeilen stehen viele Dinge über die Rolle von Intellektuellen, die sich zu Komplizen tragischer Ereignisse machen. Schön fand ich auch, was Sie zu Heidegger ausführen, dessen Rhetorik ich ein sehr kritisches Buch gewidmet habe.

 GRASS: Das ist zum Beispiel etwas, was mich amüsiert: die Faszination, die von französischen Intellektuellen gegenüber Jünger und Heidegger geäußert wird, weil damit all die Klischeevorstellungen, die man wechselseitig von Deutschland und Frankreich hat, auf den Kopf gestellt werden. Dass all das Verqualmte, was in Deutschland verhängnisvolle Folgen hatte, in Frankreich bewundert wird, ist absurd.

 BOURDIEU: Weil mich die Heideggersche Mystik befremdet hat und mir zutiefst widerstrebte, stand ich ziemlich alleine da. Es ist nicht sehr angenehm, ein aufklärerischer Franzose zu sein in einem Land, das sich einem derart modernistischen Obskurantismus unterwirft. Heidegger und Jünger ... Ein Präsident der Französischen Republik hat Jünger einen Orden angeheftet, das war ein furchtbarer Vorgang.

 GRASS: Diese Geschichte mit Liebknecht. Mir kam es darauf an, dass auf der einen Seite Karl Liebknecht die Jugend agitiert - eine Fortschrittsbewegung im Namen des Sozialismus macht sich auf den Weg - und gleichzeitig der Vater in seiner Begeisterung nicht merkt, dass der Junge runterwill von den Schultern. Als der Sohn ihm in den Nacken pinkelt, verprügelt ihn der Vater. Dieses autoritäre Verhalten führt dazu, dass der Junge sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig meldet und damit genau das macht, wovor Liebknecht gewarnt hat. Und was Jünger und Heidegger betrifft: Vielleicht wäre es für interessierte französische Intellektuelle nützlicher, mal die deutschen Aufklärer zur Kenntnis zu nehmen. Es gab ja nicht nur Diderot und Voltaire, sondern einen Lessing, es gab Lichtenberg - einen übrigens sehr witzigen Aufklärer, dessen Pointen den Franzosen mehr liegen müssten als Jünger.

 BOURDIEU: Ernst Cassirer als großer Erbe der Aufklärung hatte nur bescheidenen Erfolg, während sein Widersacher Heidegger ungeheure Aufmerksamkeit erregte. Man hat oft den beängstigenden Eindruck, dass wie durch eine Arglist der Geschichte die Franzosen von den Deutschen die schlimmen Dinge übernehmen und umgekehrt die Deutschen von den Franzosen.

 GRASS: In Mein Jahrhundert schildere ich einen Professor, der während seines Mittwochsseminars überlegt, wie er als Student 1966/67/68 reagiert hat. Damals kommt er aus der Heideggerschen Erhabenheitsphilosophie und endet auch wieder da. Zwischendurch hat er radikale Aufschwünge und gehört zu den Leuten, die Adorno auf offener Bühne fertig machen. Das ist eine sehr typische biografische Linie dieser Zeit. Ich steckte in den Sechzigern mitten im Geschehen drin: Der Studentenprotest war etwas Notwendiges und hat mehr bewirkt, als die Sprecher der 68er-Pseudorevolution wahrhaben wollten. Die Revolution fand zwar nicht statt, es gab gar keine Basis dafür, aber die Gesellschaft hat sich verändert. Im Tagebuch einer Schnecke beschreibe ich, wie die Studenten aufgeheult haben, als ich sagte: Der Fortschritt sei eine Schnecke. Natürlich könnt ihr verbal den großen Sprung - sie waren Mao-geschult - machen, aber die übersprungene Phase, nämlich die darunter liegende Gesellschaft, beeilt sich nicht. Ihr wundert euch, wenn die Verhältnisse zurückschlagen, und nennt das dann Konterrevolution - alles im eingefleischten Vokabular eines schon zu dem Zeitpunkt abgetakelten Kommunismus. Aber es gab wenig Einsehen.

 BOURDIEU: Ich habe 1964 ein Buch veröffentlicht, Die Erben, in dem ich die Einstellungsunterschiede zwischen Studenten kleinbürgerlicher und bürgerlicher Herkunft beschreibe. Der politische Radikalismus war bei bürgerlichen Studenten viel stärker ausgeprägt, während die Studenten aus dem Kleinbürgertum beziehungsweise der Arbeiterschaft reformistischer, konservativer waren.

 GRASS: Zumeist haben die Söhne aus zu gutem Hause, wie ich sie etwas provokativ nannte, den Konflikt mit dem Vater, den sie nicht auszutragen wagten, weil dann das Geld ausgegangen wäre, auf die Gesellschaft übertragen.

 BOURDIEU: Es gab 1968 eine ostentative, vor allem symbolische, künstlerische Revolution - sehr radikal dem Anschein nach. Andererseits gab es Leute, die gemäßigte Vorschläge einbrachten, um das Bildungswesen zu ändern, den Hochschulzugang. Damals wurden sie von denselben Leuten als reformistisch und deshalb lächerlich geächtet, die heute Konservative sind.

 GRASS: In den siebziger Jahren wuchs in Deutschland und den skandinavischen Ländern das Bewusstsein, dass es, wenn die Wirtschaft weiter die Ressourcen ausbeutet, zu einer Zerstörung der Umwelt kommt. Die ökologische Bewegung entstand. Aber die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien haben sich allein auf die alte soziale Frage konzentriert und die Ökologie ausgespart oder als etwas Feindseliges angesehen, was sich teils bis heute fortsetzt. Wenn wir von der neoliberalen Seite erwarten, dass sie ihr intellektuelles Potenzial benutzt, um sich selbst zur Besinnung zu bringen, dann muss das Gleiche auch an die linke Adresse gesagt werden. Endlich muss begriffen werden, dass die Ökologie vom Thema Arbeit nicht zu trennen ist: Alle Entscheidungen müssen die Barriere, ob sie ökologisch erträglich sind, überspringen.

 BOURDIEU: All diese Pseudobegriffe wie Sozialliberalismus, Blairismus sind Verinnerlichungen der herrschenden Macht über die Beherrschten. Im Grunde schämen sich die Europäer ihrer Zivilisation und trauen sich nichts mehr zu. Das beginnt ganz offensichtlich bei der Wirtschaft, aber nach und nach dehnt es sich auf den kulturellen Bereich aus, sie schämen sich ihrer kulturellen Traditionen. Die Europäer leben in einer Art Sündhaftigkeit, die wahrgenommen und verurteilt wird als Verteidigung rückständiger Traditionen - im Bereich des Kinos, in der Literatur und so weiter.

 GRASS: Bei uns verstehen sich die Schröder-Anhänger als Modernisten, und die anderen werden als Traditionalisten abgetan, was eine aberwitzige Verkürzung ist. Die Neoliberalen lachen sich doch ins Fäustchen, wenn sich in Deutschland und in anderen Ländern die Sozialdemokraten und Sozialisten mit derartigen zu nichts führenden Definitionen zugrunde richten.

 BOURDIEU: Um das Problem der Kultur zu nehmen: Ich habe mich wirklich gefreut, dass Ihnen der Nobelpreis verliehen wurde, weil er einen hervorragenden europäischen Schriftsteller ehrt, der "seinen Mund aufmacht" und eine Art der Kunst verteidigt, die für gewisse Leute überholt scheint. Die Kampagne gegen Ihren Roman Ein weites Feld wurde unter dem Vorwand geführt, dass er in literarischer Hinsicht veraltet sei. Ebenso werden gegenwärtig mit immer derselben Verdrehung die formalistischen Errungenschaften der Avantgarde mehr und mehr als überholt angesehen. In Frankreich gibt es eine regelrechte Debatte über die zeitgenössische Kunst, wo es im Grunde um die Autonomie der Kunst gegenüber der Ökonomie geht.

 GRASS: Was den Nobelpreis betrifft: Ich habe ganz gut ohne ihn leben können, und ich hoffe, es gelingt mir, auch mit ihm zu leben. Manche haben gesagt: "Endlich!" oder: "Zu spät", aber ich bin froh, dass er mich erst im fortgeschrittenen Alter jenseits der 70 erreicht hat. Wenn ein junger Autor den Nobelpreis bekommt, stelle ich mir das als eine ziemliche Last vor, weil die Erwartungen hochgeschraubt werden. Heute kann ich damit ironisch umgehen und mich dennoch darüber freuen. Aber damit soll das Thema, was mich betrifft, erschöpft sein.

Ich glaube, wir müssen von uns aus Angebote machen, denen man nicht ausweichen kann. Die großen Fernsehanstalten sind ja auch ratlos in ihrem Irr- und Aberglauben an die Einschaltquote. Man muss ihnen auf die Sprünge helfen. Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen den Nachbarn Deutschland und Frankreich, die sich bis zum Ausbluten bekämpft haben, deren Wunden noch spürbar sind und die allerlei rhetorische Bemühungen unternehmen, einander näher zu kommen. Und auf einmal merkt man: Es ist nicht nur die Sprachgrenze, es gibt Dimensionen dazwischen, die nicht wahrgenommen werden. Ich habe es vorhin anklingen lassen, dass wir nicht mal in der Lage sind, den gemeinsamen Prozess europäischer Aufklärung anzuerkennen. Das war in Zeiten, als die Nationalstaaten noch nicht so dominierten, besser. Was in Deutschland passierte, nahmen Franzosen wahr und umgekehrt; es gab eine Korrespondenz zwischen beiden Gruppen, die damals als Minderheiten kämpften und den Prozess der Aufklärung trotz Zensur in Gang gesetzt haben.

Da gilt es wieder anzuknüpfen, denn wir haben nichts anderes in der Hand als die Erkenntnisse aus dem Prozess der europäischen Aufklärung - auch über deren Fehlentwicklung. Wir beklagen zu Recht, welche Dominanz der Neoliberalismus mittlerweile ausübt und welche Bereiche er in unverantwortlicher Weise beherrscht. Aber wir sollten auch überlegen: Was haben wir im Verlauf der europäischen Aufklärung falsch gemacht? Irgendwie müssen der Kapitalismus und der Sozialismus als Kinder der Aufklärung wieder an einen Tisch.

 BOURDIEU: Vielleicht sind Sie da ein wenig optimistisch. Ich glaube, die ökonomischen und politischen Kräfte des Neoliberalismus lasten so schwer auf Europa, dass die Errungenschaften der Aufklärung wirklich in Gefahr geraten. Der französische Historiker Daniel Roche schreibt gerade ein Buch, in dem er zeigt, dass die Tradition der Aufklärung in Frankreich und Deutschland sehr verschiedene Bedeutungen hatte. Unter "Aufklärung" wurde keineswegs das verstanden, was die Franzosen mit "lumières" meinten. Diese Unterschiede müssen überwunden werden, wenn man der Zerstörung all dessen Einhalt gebieten will, was wir mit der Aufklärung verbinden - den Fortschritt der Wissenschaft, der Technik und die Bändigung dieses Fortschrittes. Es gilt, einen neuen Utopismus zu erfinden, der sich in den sozialen Kräften aufgehoben weiß. Auf die Gefahr hin, dass dies als Rückfall in ein überholtes politisches Denken wahrgenommen wird, geht es darum, neue soziale Bewegungen lebensfähig zu machen. Die Gewerkschaften sind in ihrer gegenwärtigen Form nicht mehr zeitgemäß. Sie müssen sich wandeln, sich neu definieren, internationalisieren, rationalisieren, sie müssen auch die Sozialwissenschaften bemühen, um das gut zu tun, was sie tun sollen.

 GRASS: Das bedeutet eine grundlegende Reform der Gewerkschaftsbewegung, und wir wissen, wie schwer beweglich dieser Apparat ist.

 BOURDIEU: Ja, aber wir können dabei durchaus eine gewisse Rolle übernehmen. Zum Beispiel ist die soziale Bewegung in den letzten Jahren sehr viel erfolgreicher gewesen, als sie es aus historischen Gründen lange Jahre war. Die Traditionen der französischen Arbeiterbewegung waren immer sehr hemdsärmlig, sehr feindselig den Intellektuellen gegenüber, zumindest zum Teil. Heute, in Zeiten der Krise, ist die Arbeiterbewegung sehr viel offener, hellhöriger gegenüber unseren Einwänden. Sie wird nachdenklicher, nimmt immer stärker eine neue Form der Kritik auf. Diese kritischen, reflexiven sozialen Bewegungen sind, so meine ich, die Zukunft.

 GRASS: Ich beurteile das skeptischer. Wir befinden uns beide in einem Alter, in dem wir zwar versichern können, dass wir, sofern wir gesund bleiben, weiter den Mund aufmachen werden, aber der Zeitraum ist begrenzt. Ich weiß nicht, wie es in Frankreich ist - ich glaube, auch nicht besser -, aber ich sehe bei der jungen Generation im Bereich der Literatur wenig Bereitschaft und wenig Interesse, diese Tradition, die zur Aufklärung gehört, nämlich des Mundaufmachens, des Sicheinmischens, fortzusetzen. Wenn da nichts nachwächst und uns ablöst, geht auch dieser Teil einer guten europäischen Tradition verloren.
  


Pierre Bourdieu


   
 

   
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